Die Scham, die in der Introspektion an uns nagt, mag auf den ersten Blick nicht besonders politisch anmuten. Doch schon Marx schrieb von der revolutionären Kraft der Scham. Sich für die eigene Verantwortung an gesellschaftlichen Missständen zu schämen, kann einer der stärksten Antriebe sein, etwas an ihnen zu verändern.
„Die Scham ist der wesentliche Affekt unserer Zeit“ schreibt Frédéric Gros in seinem neuen Buch, in dem er nach der gesellschaftlichen Bedeutung dieses oft unterschätzten Gefühls fragt. Für Gros ist die Scham nicht bloß Ausdruck von individueller Trauer und Verletzlichkeit, sondern auch von Wut. Sie birgt eine transformative Kraft: Wir schämen uns angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt, des Rassismus, des Sexismus, der obszönen Unterschiede zwischen Arm und Reich oder der Klimakatastrophe. Im Anschluss an Karl Marx, der die Scham als revolutionäres Gefühl charakterisiert hatte, versucht Frédéric Gros die politischen Potenziale der Scham freizulegen: Anstatt sich in sich selbst zurückzuziehen und zu verstummen, will Gros die Menschen dazu ermutigen, ihre Scham zu verbalisieren und damit ihre gesellschaftlichen Ursachen ans Licht zu bringen. Ein offener Diskurs über die Scham kann die Menschen aus ihrer Isolation befreien und Wege zum selbstbestimmten und verantwortlichen Handeln aufzeigen – und damit zur Veränderung der Gesellschaft.
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