Frühjahr 2021
Eine der Qualitäten des Passagen Verlages, die ihn über Jahrzehnte zu einem führenden Verlag für die engagierte und kritische Reflexion über unsere Gesellschaft gemacht haben, ist seine Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu erneuern. Genauso, wie sich unsere Welt und ihrer Probleme ändern, muss sich auch die kritische Theorie entwickeln. Nicht jedes Denken, nicht jeder Autor, den wir entdecken, erweist sich als gehaltvoll genug, um eine neue Denkrichtung einzuleiten, aber darauf kommt es auch nicht an. Wichtig ist die Haltung, sich nicht zurückzulehnen, sondern immer wieder neue Ansätze wahrzunehmen und zu fördern.
In diesem Sinne wollen wir auch im Verlag selbst, immer wieder mit neuen Strukturen und Abläufen experimentieren, die den verschiedenen Entwicklungen in der Gesellschaft und im Verlag Rechnung tragen und ihn auf Veränderungen in der Zukunft vorbereiten und ihn dafür fit machen.
So werden wir zum Beginn des neuen Jahrzehnts eine neue Verlagssoftware in Betrieb nehmen, die nicht nur unsere Verwaltung verbessern soll, sondern ebenso die kreativen Prozesse. Das einheitliche und für alle zugängliche Informationssystem soll unsere Abläufe verbessern und noch mehr Kraft und Energie für die Programmarbeit freisetzen. Im Zuge dieser Umstellung wollen wir auch unser seit dreißig Jahren unverändertes Editorial anpassen und in zwei Teile aufspalten. Der Text in eigener Sache wird weiterhin ein Platz für den Verleger bleiben. Dort können dann auch Überlegungen ihren Platz finden, die über das aktuelle Programm hinausreichen. Das jeweilige Programm, unsere zugrundeliegenden Überlegungen und einzelne Bücher, werden in einer zweiten Rubrik von unseren Lektorinnen und Lektoren vorgestellt. Damit wollen wir auch besser sichtbar machen, dass unsere Verlagsarbeit Teamarbeit ist. Ich hoffe, dass diese Neuerungen gut bei Ihnen ankommen und freue mich auf ihre Reaktionen.
Peter Engelmann
Über das aktuelle Programm
Wir leben in schwierigen Zeiten. Neben dem zweiten Lockdown, den momentan viele europäische Staaten eingeleitet haben, erleben wir aktuell eine neue Welle islamistischer Terroranschläge.
Unsere demokratisch verfassten Gesellschaften und unsere freiheitliche Lebensweise stehen angesichts der Pandemie, der fatalen wirtschaftlichen Lage, der Erfahrung von Freiheitsentzug und der terroristischen Bedrohung vor einer großen Herausforderung.
Aber bedroht sind dabei nicht nur die Errungenschaften unserer Zivilisation, sondern auch ganz unmittelbar unser Leben: die körperliche Unversehrtheit jedes Einzelnen, die uns heute weniger selbstverständlich scheint als noch vor wenigen Monaten.
Zudem lauert hinter der Corona-Krise noch immer die Klimakrise, die uns – obwohl sie momentan weitgehend aus den Nachrichten verschwunden ist – langfristig zwingen wird, die Formen unseres Zusammenlebens und unseres Umgangs mit der Natur grundlegend zu überdenken.
Unser aktuelles Programm legt deswegen einen besonderen Schwerpunkt auf die Auswirkungen der aktuellen Krisen auf unser Leben: auf das menschliche Leben, aber auch auf das Leben auf unserem Planeten insgesamt.
Slavoj Žižek legt den in diesem Frühjahr den Nachfolger seines vieldiskutierten Buches Pandemie! vor. In Pandemie! II Chronik einer verlorenen Zeit stellt Žižek das pandemische Geschehen in einen größeren Kontext und untersucht den Einfluss der Pandemie auf das gesellschaftliche Leben und das Zusammenleben von Mensch und Natur. So betrachtet er zum Beispiel die Auswirkungen von Fehlernten auf unsere Nahrungsmittelversorgung oder die weltweite Ausbeutung der Beschäftigten im Pflegesektor. Diese und andere Phänomene führen ihn zu der Einsicht, dass der Kapitalismus angesichts der Herausforderungen der aktuellen Krise weitgehend machtlos ist. Ein System, das ausschließlich an marktwirtschaftlichen Faktoren orientiert ist, ist in seinen Augen nicht in der Lage, den Schutz von Mensch und Natur zu gewährleisten.
Judith Butler beschäftigt sich in ihrem neuen Buch mit den frühen Texten von Karl Marx, die sie einer radikalen Neuinterpretation unterzieht. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass insbesondere der frühe Marx eine einseitig humanistische und damit anthropozentrische Perspektive vertrete, zeigt Butler, dass bereits der frühe Marx das komplexe Wechselspiel von Mensch und Natur jenseits von instrumenteller Vernunft und Naturbeherrschung gedacht hat. Insbesondere den Begriff des unorganischen Körpers versucht Butler für ihre eigenen ökologische Ontologie der Interdependenz aller lebendigen Wesen fruchtbar zu machen.
Alain Badiou fragt in seinem neuen Buch ganz unmittelbar nach dem Leben. Die Frage „Was heißt Leben?“ ist für ihn die zentrale Frage der Philosophie. Es geht ihm dabei aber nicht bloß um das biologische Leben in all seiner Fragilität, sondern um Frage wie ein gelingendes Leben gedacht werden kann, das aus der Prekarität der Endlichkeit heraustritt, um sich an den ewigen Wahrheiten zu orientieren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt unseres aktuellen Programms, ohne den die Frage, was Leben in der heutigen Zeit bedeutet, kaum gedacht werden kann, ist die Digitalisierung.
Der Rückzug aus der Sphäre des unmittelbaren körperlichen Kontakts, der uns heute so oft angeraten oder sogar auferlegt wird, ist untrennbar mit der Digitalisierung verbunden: Während unsere gesellschaftliche Lebenswelt, wie wir sie kannten, immer mehr ins Wanken gerät, befindet sich die Digitalisierung ungebremst auf dem Vormarsch.
Tracatus Preisträger Roberto Simanowski untersucht in seinem neuen Buch Das Virus und das Digitale die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf die Digitalisierung. Für Simanowski ist Covid-19 „die Hefe der Digitalisierung“: Mit Home-Office, Fernunterricht, Online-Shopping, Video-Streaming und Corona-App erleben wir einen Sprung in die Zukunft, den es in Echtzeit zu begreifen gilt.
Die neuen Digitalisierungstendenzen zeigen sich insbesondere im Bildungsbereich. Es scheint, als hätte die Pandemie bereits jetzt ein fundamentales Umdenken eingeleitet, das unsere Bildungsinstitutionen nachhaltig verändern wird. Medienwissenschaftler Oliver Ruf nimmt sich in seinem Buch Die digitale Universität der schwierigen Frage an, was die Digitalisierung für die Zukunft der universitären Ausbildung und der akademischen Welt bedeutet.
Zum Abschluss möchten wir Sie noch auf einige weitere Highlights des aktuellen Programms hinweisen. Der zweite Band von Jacques Derridas Seminar über die Todesstrafe liegt nun endlich auch als Printausgabe vor. Sein Buch Apokalypse erscheint heuer in der 5. Auflage. Außerdem wird dieses Frühjahr endlich Ernesto Laclaus Klassiker „Die populistische Vernunft“ in deutscher Übersetzung erscheinen, mit einem neuen Vorwort von Chantal Mouffe.
In diesem Frühjahr haben wir erstmals ein Buch von Graham Harman, dem Erfinder der Objektorientierten Ontologie, im Programm. Sein international einflussreicher theoretischer Ansatz stößt heute nicht nur in der Philosophie und den Sozialwissenschaften, sondern auch in Kunst und Architektur auf lebhaftes Interesse. In Immaterialismus gibt der Autor in geistreicher und oft humorvoller Weise einen konzisen Überblick über seine Theorie.
Das Passagen Lektorats-Team