Im Gespräch mit Camille Kouchner nimmt der französische Anthropologe Maurice Godelier seine Leser:innen mit auf eine Reise durch Zeit und Raum. Anhand des Inzestverbots erläutert er die vielen unterschiedlichen Arten, wie in nicht-westlichen Gesellschaften soziale Hierarchien, Sexualität und Geschlechterrollen konstruiert und gelebt werden.
Für Claude Lévi-Strauss markierte das Inzestverbot den Übergang von der Natur zur Kultur. Auch wenn die Natur/Kultur-Dichotomie heute meist kritisch betrachtet wird, bleibt sowohl das Phänomen des Inzests als auch sein Verbot eine kulturelle Konstante, die sich durch nahezu alle Gesellschaften zieht. Allerdings erweist sich schon der Begriff des Inzests bei genauerem Hinsehen als soziales Konstrukt, denn die Grade der biologischen Verwandtschaft spielen dabei oft eine geringere Rolle als die jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen der Individuen. Insbesondere in einer Zeit, in der in vielen Teilen der Welt eine Rückbesinnung auf traditionelle Familienmodelle zu beobachten ist, die oft mit einer aggressiven Ablehnung anderer, als abnorm gebrandmarkter Lebensformen einhergeht, stellt die anthropologische Forschung Godeliers eine wichtige Horizonterweiterung dar: Indem sie uns mit der Vielfalt der möglichen Erscheinungsformen des Menschlichen konfrontiert, relativiert sie den Anspruch patriarchaler Gesellschaftsmodelle und mahnt uns zur Toleranz.
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