Wie gern hätte man manchmal Unrecht. Aber leider erweist sich, was ich im Passagen Frühjahrskatalog 2024 zum sich ausbreitenden Antisemitismus schrieb, als immer größer werdendes Problem. Der in der DNA rechtsextremer Holocaust-Leugner verankerte Antisemitismus war immer ein verstörendes Phänomen, schien aber auf den äußersten rechten Rand des politischen Spektrums beschränkt zu sein. Zu Recht war es Konsens aller Parteien links vom rechten Rand: Nie wieder Faschismus, nie wieder Antisemitismus in unserem Land. Der importierte Antisemitismus islamistischer Kreise in Deutschland störte diesen Konsens, wurde aber lange Zeit ausgeblendet. In der dekolonialen Weltsicht der deutschen, aber auch der internationalen Linken durfte es diese Seite des genuinen, religiös begründeten Judenhasses nicht geben. Jeder Hinweis darauf wurde als antimigrantisch und rassistisch weggewischt. Eine offene, klare Auseinandersetzung mit islamistischen Antisemitismus blieb aus. Damit aber auch eine Selbstreflexion und Selbstüberprüfung der eigenen Theorie-Konzepte. Mit dem Erfolg, dass heute auch Teile des linken Milieus mit ihrem Einsatz gegen Israels Vorgehen gegen die Hamas im Gazastreifen zumindest in die Nähe antisemitischer Positionen geraten sind, wie sehr auch immer sie beteuern mögen, natürlich nicht antisemitisch zu sein. Das Motto der Demos ist nicht, „lasst Juden und Palästinenser friedlich zusammenleben“, sondern „free palestine, from the river to the sea“. Und wenn ich dieses Motto skandiere, verlange ich die Auslöschung des jüdischen Staates und bestreite das Recht jüdischer Menschen, in dieser Region zu leben. Denn wo sollen sie hin, wenn sie vom Fluss an den Rand des Meeres getrieben worden sind, wenn nicht ins Meer? Israel ist der Zufluchtsstaat der weltweiten Diaspora. Juden lebten über Jahrhunderte auf der ganzen Welt verstreut und wurden überall auf brutalste Weise, verfolgt, erniedrigt und ermordet. Der von Hitlerdeutschland industriell organisierte Judenmord im Holocaust machte unabweislich klar, dass Juden einen Zufluchtsstaat brauchen. Bestürzend ist, dass dieser Zusammenhang heute von so vielen Menschen von rechts bis links, wenn nicht geleugnet, so zumindest relativiert wird. Gegen dieses Leugnen, gegen dieses Vergessen wenden wir uns mit aller Kraft. Deshalb ist das neue Buch der italienischen Philosophin Donatella di Cesare Wenn Auschwitz negiert wird. Gegen Holocaustleungung unser Spitzentitel in diesem Herbst.
Angefangen mit den Holocaustleugnern der ersten Stunde wird bis heute die gleiche Strategie benutzt: Die Shoah wird zum Mythos erklärt, Auschwitz zur Lüge und die Überlebenden zu Betrügern und Nutznießern dieser vermeintlichen Lüge. Das aber ist der Kern des jahrhundertealten Judenhasses in Europa und aller antisemitischen Positionen bis heute.
Aber das Buch von Donatella Di Cesare geht weit über den aktuellen Kontext der gegenwärtigen Antisemitismuswelle hinaus. Holocaustleugnung ist die Leugnung und Manipulation historischer Tatsachen. Die Autorin zeigt uns, dass Holocaustleugnung die Urform aller Negationismen ist, die wiederum die Voraussetzung für die Etablierung autokratischer Regimes rund um den Globus sind. Von Trump bis Putin, von Erdoğan bis Modi, von Kaczyński bis Orbán werden Demokratien mit Hilfe von Geschichtsfälschung und der Erfindung neuer, das autokratische Regime legitimierender Erzählungen zu totalitären Gesellschaften umgebaut. Die Einschreibung negationistischer Positionen in die politischen Diskurse gehört dabei zum Grundmuster der Zerstörung unserer Demokratien.
Peter Engelmann